Heimatkunde
AULENDORF
09. Oktober 1992 Beilage zu „aulendorf aktuell“
Jungsteinzeitliche Siedlungen im Steeger See bei Aulendorf , Kreis Ravensburg
Die Gemeinde Aulendorf war bereits im letzten Jahrhundert durch den Fund eines hölzernen Vollscheibenrades, das im »Ried bei Aulendorf« an nicht näher bekannter Stelle zum Vorschein kam, im Kreis der Archäologen bekannt geworden. Aus dem verlandeten Bereich östlich des Steeger Sees meldete H. Forschner 1930 mehrere zum Vorschein gekommene Pfähle und horizontales Holzwerk, allerdings ohne zugehörige Funde. Unweit des Federsees und in der Nachbarschaft der Moorsiedlungen Reute-Schorrenried (Stadt Bad Waldsee), Schreckensee (Gemeinde Wolpertswende) und Musbacher Ried (Gemeinde Ebersbach-Musbach) gelegen (Abb. 30), war es eher merkwürdig, daß in den großen Moorflächen um Aulendorf seitdem keine Siedlungsfunde ans Licht kamen. Die Entdeckung eines jungsteinzeitlichen Siedlungsareals im Steeger See, dem Badsee der Stadt Aulendorf, kam 1990 somit nicht unerwartet. Überraschend war jedoch die Lage unter 2,50 m Wasserbedeckung inmitten des Sees.
Der Aufmerksamkeit der Stadtbehörde Aulendorf ist es zu verdanken, daß diese wichtige Fundstelle unverzüglich dem Landesdenkmalamt bekannt geworden ist. Die Bedeutung der Funde, die badende Jugendliche des nahegelegenen Zeltlagers im Tiergarten beim Wertauchen ans Tageslicht befördert hatten, wurde so umgehend erkannt. Durch die verständnisvolle Mithilfe von Lagerleitung, DLRG-Tauchergruppe und Badegästen konnte das verstreute Fundmaterial wieder zusammengebracht werden. Unser besonderer Dank gilt Bademeister EiseIe und den Herren Fiderer und Wörner von der Stadtverwaltung. Weitere Informationen und Funde erhielten wir durch Herrn Koch, einem Badegast.
Ein erster Tauchgang durch das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg im Sommer 1990 zur Überprüfung der Fundverhältnisse und Situation im Steeger See ließ keinen Zweifel daran, daß es sich um eine der wenigen Feuchtbodensiedlungen Oberschwabens handelt, die bis auf den heutigen Tag im freien Wasser erhalten blieben. Die Sichtverhältnisse erwiesen sich im braunen Moorwasser des Sees jedoch als derart schlecht, daß eine gezielte Nachforschung auf die kalte Jahreszeit verschoben werden mußte. Im Winter/Frühjahr 1990/91 führte dann die Pfahlbauarchäologie Bodensee-Oberschwaben des Landesdenkmalamtes eine erste Tauchsondage im Steeger See durch. Ziel dieser Unterwassersondage war es, die Ausdehnung der Siedlung durch Bohrungen und Aufschlüsse zu erkunden, Kulturschichten zu suchen und Proben von Pfählen zu nehmen. Zudem wurde eine systematische Vermessung des Seebodens durch die Fa. Nautik GmbH mit Echolot vorgenommen. Hierdurch wurde sichtbar, daß sich das Siedlungsareal auf einer kaum merklichen Erhebung befindet, die ursprünglich einer Insel- oder Halbinsellage entsprochen haben dürfte. Kulturschichten und Bauhölzer sind erhalten, ihre stratigraphische Gliederung ist aber noch unklar.
Das Fundmaterial bietet ein ganzes Spektrum jungsteinzeitlicher Kulturen. Überraschend waren zunächst verzierte Scherben des Mittelneolithikums (Abb. 31), die sich nach erster Einschätzung den Kulturen Stichbandkeramik bzw. Hinkelstein zuweisen lassen, die sich im Arbeitsgebiet überschneiden. Es sind somit die ältesten Keramikfunde der Jungsteinzeit im Jungmoränengürtel Oberschwabens. – aus einer Zeit, in der erste bäuerliche Pioniere in das Alpenvorland eindrangen. Die wenigen unstratifizierten Scherben aus dem Steeger See reichen noch nicht aus, um mit Sicherheit eine ganze Siedlungsanlage annehmen zu können, sie belegen aber zumindest die vorübergehende Anwesenheit von frühen Siedlern des Mittelneolithikums in der ersten Hälfte des 5. Jt. v. Chr. Von besonderer Bedeutung ist ihr Auftauchen in einem See, konzentrieren sich doch die bekannten Siedlungsplätze der Kulturen Stichbandkeramik und Hinkelstein in Baden-Württernberg auf die Mineralböden der Altsiedellandschaften, vor allem auf die Lößgebiete. Hier wird ein erstes Ausgreifen der Siedler in die Feuchtgebiete faßbar, wie es sich seit neuestern auch am westlichen Bodensee durch Keramik-Einzelfunde von Homstaad und Bodman andeutet. Auch die in ihrer Herkunftsangabe etwas dubiosen Altfunde der Stichbandkeramik vom Federsee erhalten hier eine Bestätigung.
Die nächst jüngere im Steeger See erfaßte steinzeitliche Kulturgruppe, die um 4000 v. Chr. datiert werden kann, ist in Oberschwaben und im mittleren Neckarbecken verbreitet. Die früheste Entdeckung ihrer Keramik, die sich durch Krugformen mit reichem Ritzdekor zu erkennen gibt, wurde in Oberschwaben im südlichen Federseeried gemacht, und vom nahe gelegenen Schussenried erhielt die Kultur ihren Namen. Die Schussenrieder Kultur ist mit reichem Fundmaterial, bestehend aus Geweihgeräten samt Holzschaft, reich verzierter Keramik (Abb. 32,1) und einer Reihe von Steinbeilen und Feuersteinwerkzeugen am Steeger See vertreten. Damit konnte nach den großen Ausgrabungen in den zwanziger Jahren am Federsee und in den fünfziger und sechziger Jahren in Ehrenstein bei Ulm erstmals wieder ein größeres Fundensemble der Schus-senrieder Südgruppe entdeckt werden. Die Sondagen des Projekts Bodensee-Oberschwaben hatten ab 1979 im Musbacher Ried und in Alleshausen-Hartöschle am nördlichen Federsee nur kleine Stichproben von Schussenrieder Funden ans Licht gebracht.
Eine weitere Kulturgruppe, die Pfyn-Altheimer Gruppe Oberschwabens, ist erst vor wenigen Jahren in ihrer Bedeutung erkannt worden. Sie verbindet Elemente der Pfyner Kultur des Bodenseeraumes mit solchen der Bayerischen Altheimer Kultur. Am Steeger See ist sie durch zahlreiche Funde vertreten. Erste Datierungen des Archäodendrologischen Labors Hemmenhofen aus den Pfahlproben , mit jahrgenauen Schlagdaten zwischen 3731- 3723 v. Chr., sind dieser Kulturgruppe zuzurechnen. Die weitgehend zeitgleichen Daten der benachbarten Siedlung Reute-Schorrenried, die ausschließlich Fundmaterial der Pfyn-Altheimer Gruppe lieferte, legen diesen Schluß nahe. Im Steeger See sind vor allem grobe Töpfe mit schlickgerauhter Oberfläche und Töpfe mit flächendeckender Fingereindruckzier (Abb. 32,3) gefunden worden.
Ein einzelnes Gefäß vom Steeger See, eine sog. Ösenleistenflasche (Abb. 32,2), zeugt von Einflüssen der Michelsberger Kultur, deren Hauptverbreitungsgebiete jenseits der Schwäbischen Alb liegen. Das Gefäß gehört in eine jüngere Stufe der Michelsberger Keramikentwicklung. Da Michclsberger Gefäße in den Ufer- und Moorsiedlungen des Raumes Bodensee-Oberschwaben im Milieu der Schussenrieder und Pfyner Kultur auftreten, dürfte auch der vereinzelte Fund vom Steeger See keine eigene Siedlungsphase repräsentieren. Wahrscheinlich gehört er in den Zusammenhang der Schussenrieder Funde, leider kann er aber stratigraphisch noch nicht zugewiesen werden.
Naturgemäß tauchen nach ersten Einblicken in eine unbekannte Ufersiedlung zunächst mehr Fragen auf als Antworten. So müssen die Ausdehnung der verschiedenen Siedlungen, die Erhaltung ihrer Kulturschichten sowie das Verhältnis der einzelnen jungsteinzeitlichen Kulturen zueinander vor Ort erst detailliert abgeklärt werden. Probleme bringt auch die. Lage innerhalb eines öffentlichen Freibades mit sich, welches sich im Sommer regen Besuches erfreut. Die Fragen, die der Steeger See in archäologischer Sicht aufgeworfen hat, werden in den nächsten Jahren in weiteren Unterwassersondagen abzuklären sein. Es bestehen berechtigte Hoffnungen, neue Erkenntnisse zur frühesten bäuerlichen Besiedlung Oberschwabens zu erhalten. Besonders interessant ist dabei die Frage, wie die Fundschichten so weit unter Wasser gerieten. Der Steeger See ist in der oberschwäbischen Seenplatte ein Sonderfall. Er dürfte zwar – wie viele andere Seen auch – auf ein Toteisloch zurückgehen, doch liegt er nicht im Hügelland, sondern direkt in der Talaue der Schussen. Das Flüßchen fließt heute nur wenige Meter neben dem See vorbei (Abb. 30). Die Verfüllung der Talebene durch Auelehm dürfte hier den Ausschlag zum Anstieg des Wasserspiegels gegeben haben. Zwischen der Entwaldung des umgebenden Hügellandes bzw. der damit verbundenen Erosion seit der Jungsteinzeit und der Seengeschichte dürften somit direkte Zusammenhänge bestehen. Dies wäre ein vielversprechender Ansatzpunkt zur weiteren Erforschung der Siedlungs- und Naturgeschichte des Schussentales. Ein naturwissenschaftliches Untersuchungsprogramm ist jedoch noch nicht begonnen worden.
Die Probleme auf der denkmalpflegerischen Seite bestehen hauptsächlich im Schutz offenliegender Funde und Kulturschichten vor Badebetrieb, unbefugter Ausbeutung und Erosion. Zu diesem Zweck ist eine fachkundige Abdeckung des fraglichen Areals in Zusammenarbeit mit dem Wasserwirtschaftsamt Ravensburg geplant. Die Tauchuntersuchungen und Vermessungsarbeiten, die 1992 fortgesetzt werden, dienen nicht zuletzt auch der Vorbereitung dieser Schutzmaßnahmen.
Joachim Köninger, Helmut Schlichtherle